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  • stefanjeichler

Kurzgeschichte: Tom Foggerty

Es war eine Party wie viele andere. Nett aber austauschbar. Diese Altbau-WG, im zweiten Stock, mit viel zu hohen Decken, wurde von vier Männern und abgewetzten Möbeln bewohnt. Poster hingen auf Augenhöhe und bedeckten sie so fleckenhaft wie Aufkleber auf einem Kinderkleiderschrank. Absichtlich schräg aufgehangen mit pseudointellektuellen Sprüchen und provokanten Abbildungen, die nicht deutlich machten ob sie Kunst oder Pornographie sein wollen. Es war eine Party wie viele andere. Nett aber austauschbar. Diese Altbau-WG, im zweiten Stock, mit viel zu hohen Decken, wurde von vier Männern und abgewetzten Möbeln bewohnt. Poster hingen auf Augenhöhe und bedeckten sie so fleckenhaft wie Aufkleber auf einem Kinderkleiderschrank. Absichtlich schräg aufgehangen mit pseudointellektuellen Sprüchen und provokanten Abbildungen, die nicht deutlich machten ob sie Kunst oder Pornographie sein wollen.

Ich war dieser Partys überdrüssig, billiges Bier, zweitklassiger Schnaps und an jedem Fenster ein bis zwei Raucher, die mehr zum Schein, den Rauch aus dem Fenster hauchten, bevor der Luftzug ihn wieder in die Wohnung wehte. Ähnlich wie die Wohnung waren die Menschen, die sich hier aufhielten. Viel zu jung um Klasse zu haben, egozentrisch, betont retro und im ständig, unterschwelligen Revierkampf um die nächste Kopulation. Hier zählten keine Muskeln oder schneidige Gesichtszüge. Hier wurde mit intelektuellem Starrsinn diskutiert, die gewinnende Person wurde für den Geschlechtsakt interessant.


Als ich Tom traf, war er einer von vielen. Ein unscheinbarer Fleck, der nur bei Bewegung wahrgenomen wurde, wie ein Regentropfen am Rande einer Brille. Er saß in der Ecke einer durchgesessenen Couch, die so niedrig war, dass man die Beine ausstrecken musste um halbwegs bequem darin zu sitzen. Er hielt eine warme Flasche Pale Ale in den Händen, fest umschlossen, in den Schoss gedrückt. Ich entdeckte ihn als er die flackernde Lampe ausknipste, die bislang ein warm, weiches Licht in die Zimmerecke warf. Im halbschatten beobachtete ich ihn, wie er gedankenversunken am Etikett der Flasche kratzte. Während ich versucht war jeglichem tiefergehenden Gespräch auszuweichen, um mich bei Bedarf so schnell wie möglich aus der Gesellschaft zu entziehen, saß Tom einfach dar und schien sich wie ein Möbelstück im Raum zu verlieren. Er war in vielerlei Hinsicht den Möbeln sehr ähnlich. Die Korthose war abgetragen, der Polunder Curryfarben und das Hemd zerknittert. Seine Haare waren dunkelblond, fast braun, die Stirn sehr hoch. Ich habe nie verstanden wie sich Menschen mit einer Halbglatze an den Rest ihrer Haare klammern. Ein kurzer Vollbart umrandete das Gesicht. Vereinzelt standen Härchen aus dem sorgfälltig gebürsteten Gesichtshaar ab und fingen das Restlicht ein. Es verlieh dem Gesicht eine Art Aura, würdevoll aber unbedeutend. Der breite Nasenrücken trug eine schwere Hornbrille, die Tom gelegentlich nach oben schob. Dabei zog er gedankenverloren einen tiefen Zug der verbrauchten Luft ein

Er hatte mich noch nicht erblickt, dafür verlor ich allerdings langsam das Interesse an der Beobachtung seiner Person. Er war offensichtlich alleine hier auf der Party, oder seine Freunde verloren sich gerade in den Gesprächen die seit jahrhunderten diskutiert wurden und wohl nie zu einem konstruktivem Ende geführt werden konnten.


Mein Bier war noch kalt. Ich ging zu Tom hin und ließ mich mich halb ungelenken Bewegungen zu ihn in die Couch ab und stieß mit dem Flaschenboden meines Biers gegen den Hals seiner Flasche. Ich streckte ihm meine linke Hand hin und sagte: „Hi, ich bin Ben.“ Er griff meine Hand, schaute auf den Boden, lächelte dabei unsicher und sagte: „Tom, Tom Foggerty.“ Das Thema Vorstellung schien damit abgeschlossen zu sein. Mehr als der Name einer Person blieb nach einer Party sowieso kaum im Gedächtnis. „Wen kennst Du hier?“, fragte ich, „ich studiere mit Rich am Trinity.“ Tom nickte als ich zuende gesprochen hatte, und setzte nach: „Ich kenne die Menschen über meine Schwester. Sie geht mit Howie.“ Howie war Richs bester Freund und gerühmter Resident dieser WG. Ein Duo, dass ebenso beliebt wie berüchtigt war. Draufgängerisch und unangepasst, dennoch respektabel in ihren studentischen Eigenschaften. Sie schafften diesen Spagat zwischen „Scheiß drauf“ und seriös. Menschen von denen man nicht weiß ob man sie mögen oder hassen soll. „Howard ist ein verwöhnter Bastard, der nicht weiß wie privilegiert er ist“, setzte Tom nach. Seine unverblümte Aussage traf mich unvorbereitet. Mir fiel gedanklich die Kinnlade runter und ich wusste nicht genau ob ich zustimmen, widersprechen oder mich relativierend äußern sollte. Daraufhin musste ich laut loslachen. Sicherlich war es kein Satz mit dem Tom sich erhoffte Freunde zu machen aber er war grund ehrlich. Ich ließ meinen linken Arm auf den dazugehörigen Oberschenkel fallen und stimmte ihm zu. „Ja Mann, ich kann seinen Familiären Stand zwar nicht beurteilen, aber auf jeden Fall ist er ein Bastard. Attraktiv ohne eitel zu sein, reich ohne zu protzen und klug ohne zu lernen. Ich kann diese Menschen nicht leiden, die alles erreichen ohne sich bemühren zu müssen. Neid ist ein launisches Biest und trotzdem freue ich mich für ihn. Tom nickte mit seinem ganzen Oberkörper und hielt mir seine Flasche hin. Ich stieß sie an und nahm den letzten Schluck aus meiner Flasche. „Ich hol mir noch eines, willst Du auch noch?“ Tom zog seinen Hals ein und hob die Flasche auf Augenhöhe. Abschätzend schürzte er die Lippen und schwenkte den letzten warmen Schluck Ale umher. „Jupp,“ sagte er ohne mich anzuschauen, und anschließend, sagte er „Ein letztes.“ Er reichte mir die Flasche hoch, nachdem ich mich aus der Couch herausgefaltet hatte und schaute mit einem gütigen Lächeln drein. Er hatte fast graue Augen fiel mir dabei auf. Graue Augen und eine krankhaft fahle Haut. Jetzt wo die Lampe aus war, kamen diese Farben erst zum Vorschein.


Die Getränke schwammen in der Badewanne, in einem Meer aus aufgetauten Eiswürfeln und abgelösten Etiketten. Dieses Bad war wohl mal die intime Heimat einer glücklichen Familie, dachte ich mir. Neben der Badewanne fanden sich hier noch zwei Waschbecken, Spiegel und ein bis hüfthöhe ummauertes WC mit Wasserzug, der bis zum Spülkasten unter der Zimmmerdecke führte. Hier und da fanden sich aufgeklebte Blumen, die wahrscheinlich von Kinderhand unbadarft zur Verschönerung angebracht wurden. Jetzt gerade wurde sich hier nur geschminkt, der Sitz der Haare kontrolliert und der oberflächlichkeit gefröhnt, von der niemand mitkriegen sollte, dass sie dennoch vorhanden ist. Ich griff nach zwei Flaschen Ale und zog sie schnell aus dem lauwarmen Wasser. Der sog ließ die umherliegenden Flaschen an ihre Stelle wandern. Es entstand keine Lücke. Alle Flaschen waren gleichmäßig verteilt. Ich hielt die Flaschen für einen kurzen Moment unter kaltes Wasser um ihnen noch pro Forma eine oberflächliche Frische zu verleihen. Genauso oberflächlich wischte ich das Wasser mit meiner T-Shirt Flanke ab.

Als ich zurück ins Wohnzimmer kam war die Couch fast leer. Nur ein lieblos hingeschmissener Rucksack lag über einer Armlehne und erbrach einen Schlüsselbund auf den Dielenboden. Ich blickte durch den Raum auf der Suche nach Tom. Er stand nicht bei den Rauchern auf dem Balkon, auch nicht bei den Kampftrinkern, rund um den kleinen Beistelltisch. Auch am Bücherregal, zwischen Baskenmützen und Rollkrägen war kein Tom zu sehen. Ich zuckte mit den Schultern und begann mich wieder in die Couch zu klappen. „BEN!“ rief eine Stimme halb unter mir. Ich fuhr erschrocken hoch und erblickte zwischen meinen Beinen hindurch Tom, der mit erhobenen Armen bereit war mich wegzudrücken, hätte ich mich fallen gelassen. „Wo kommst Du denn her?, fragte ich, „hier ist Dein Ale.“ Ich reichte ihm die Flasche und setze mich wieder neben ihn. „Ich saß die ganze Zeit hier“, sagte er und winkte ab, als sei es das natürlichste der Welt übersehen zu werden.


Nach diesem fast lustigen Zusammenstoß kamen Tom und ich schnell ins Gespräch. In gemächlichen Tempo, dass sich in seiner Qualität deutlich von den gehetzten Haarspaltereien der anderen Gesprächsgruppen unterschied schienen wir in Zeitlupe durch den Abend zu gehen. Bei aller Zeit der Welt und ohne die Anstalten etwas beweisen zu müssen amüsierten wir uns bei vielerlei Themen, über Stunden. Vielleicht verging Toms und meine Zeit gar nicht in Zeitlupe. Vielleicht verging die Zeit der anderen nur viel schneller, sozusagen in Zeitraffer. So wie sie hetzten und posten und protzten und schön sein wollten durch Klugheit, war es deutlich zu sehen wie schnell und ruckartig sie sich bewegten. Nur Tom und ich saßen auf der Couch außerhalb dieser Zeitlinie, die hier gerade stattzufinden schien. Mir wurde ein wenig schwindelig bei all dem Tempo um mich herum, der schlechten Luft und dem starken Bier. Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ich rieb ihn mit der linken Handfläche ab und rieb es an meiner Hose ab. Tom bemerkte mein Unwohlsein. „Konzentrier´ Dich auf Deine Flascche, das hilft, sagte er nonchalont ohne mich anzuschauen. Hat Tom mich überhaupt schonmal angeschaut, außer bei der Flaschenübergabe? Er hob die Flasche aus dem Schoß schüttelte sie kurz demonstrativ und sagte „Flasche!“ Ich tat wie mir befohlen und tatsächlich wurde mir wohler zu Mute. „Du kennst das wohl schon, was?“ sagte ich halb dahingegrinst. „Liegt das an der Luft oder ist das Bier so stark? Ich hasse es wenn die Kiffer nicht zum Rauchen die Wohnung komplett verlassen.“ „Nein, Nein, sagte Tom, alles gut, das liegt an mir.“ Bei dem Satz hatte er den Kopf sogar ein wenig in meine Richtung bewegt. Ich lachte in meine Flasche hinein. „Ist das Deine Masche um den Leuten den Kopf zu verdrehen oder hast Du mir heimlich was in die Flasche gesteckt.“ „Ben“, sagte er Ernst, warum bist Du auf dieser Party?“ Mir war fast bange bei diesem plötzlichen, ernsten Unterton: „Es, es ist Samstag Abend… .“ „Schon klar, aber was war der Grund für diese Party hier?“ Ich war geneigt so schnell wie möglich zu antworten, erhob den Kopf, dann eine Hand, aber ich wußte es einfach nicht mehr. Ich schaute Ben an und zog die Mundwinkel spitz nach unten. In einer unendlich langsamen Bewgung hob Ben den Kopf, nur hatte es den Anschein, dass sein Gesicht einen Moment lang auf sein Bier gerichtet blieb. Seine blaßgrauen Augen stießen sich durch die Meinen. „Das hier ist meine Abschiedsfeier“. Sein Blick wanderte zurück zu seiner Flasche. „Oha, entschuldige bittte, das wusste ich nicht. Ich wurde mitgeschleppt, wo gehts denn hin?“


„Er klemmte das Bier zwischen seine Oberschenkel, hob theatralisch die Arme und sagte: ins unendliche Nirvana. Cool oder? Das habe ich eingeübt.“ Dieser Mann ist wirklich sehr eigensinnig, aber ich mochte ihn. Es war als ob ich ihn schon lange kannte. Bei seiner einstudierten Bewegung dachte ich, dass ich das Tapetenmuster durch seine Hände sehen kann. Genaugenommen konnte man auch durch den Kopf ein wenig Tapenmuster sehen. Aber es war schon spät, da spielen einem die Augen schonmal gerne einen Streich. „Ben, sagte Tom, Du weißt es nicht mehr, aber wir waren uns jahrelang gute Freunde. Ich mach Dir keinen Vorwurf, dass Du mich vergessen hast, das haben alle hier. Das liegt in der Natur der Dinge. In einer Welt die sich immer weiter entwickelt und trotzdem alles gleich bleibt gibt es nur wenige Wunder, aber nicht alle Wunder die passieren sind auch gut. Ich verliere meine Integrität. Nicht mehr lange und ich war nie gewesen.

„Was redest Du da? Bist Du High?“, fragte ich kopfschüttelnd. Er hob seine fahle, fast durchsichtige Hand und wollte mir ins Gesicht greifen. Ich wich nicht aus aber schloss kurz ein Auge und zog einen Mundwinkel hoch. Seine Hand zerstob an meinem Gesicht. Im Affekt atmete ich ein, ich atmete ihn ein. Er roch nach kalter, nasser Luft, fast wie Nebel. Ich sah die WG, wie durch einen Schleier. „Weißt Du, in einem dieser Comics wäre ich vielleicht ein Held geworden; der Mann, der Kontrolle über seinen Aggregatzustand hat.“ Er machte eine kurze Pause. „Vielleicht hätte ich auch ein Schurke sein können. Keiner erinnert sich an den letzten Nebel, Perfekt! Aber sei´s drum, das sind nur Comics. Lass uns nach draußen gehen Ben, ich kann mich nicht mehr lange halten.“


Ich stand mehr fremdgesteuert als wirklich gewollt auf. Ich fühle mich wie in einem Tunnel, aber diesen Weg wollte ich noch zu ende gehen. Ich reichte Tom die Hand um ihm aufzuhelfen. Er machte so einen unendlich müden Eindruck auf mich. Sein Nebel bewegte sich schneller als seine Kleidung die noch vom Rest seiner festen Substanz am diffundierenden Leib gehalten wurde. Er brauchte meine Hand nicht, er schwebte fast aus der Couch in den Stand. Wir gingen die Treppen des Altbaus runter bis zur Straße. Es nieselte leicht. Mitten in der Nacht, es mochte gut und gerne drei Uhr durch sein, gingen wir die Thomas Street entlang in Richtung Liffey. Der Geruch der Guinness Brauerei begleitete uns ein ganzes Stück des Weges. „Es riecht irgendwie nach Nudelsuppe und Ziegenpisse,“ sagte ich in die Stille. Tom hauchte ein lächeln in die Luft: „den Vergleich hab´ ich Dir damals gesagt als wir anfangs noch im Temple Bar getrunken haben.“ Ich klappte das Revers meines Sportblazers um und vergrub die Hände in den Hosentaschen.


Als wir an der Sean Heuston Brücke ankamen war der Wasserstand gerade niedrig. „Hier runter“, sagte Tom. Er glitt einfach durch die Gitterstäbe, während ich einen geeigneten Platz suchte um mich kontrolliert vom begrenzenden Mäuerchen runterfallen zu lassen. Seine Kleidung blieb an den Gitterstäben der Brücke hängen, unmotiviert, nass und schlapp. Die Brille fiel zu Boden. Tom sammelte sich mit offensichtlichen Anstrengungen und zusammengebissenen Zähnen an einer kleinen Landzunge, die in den Fluss ragte. Von Seinem Körper war nicht mehr als eine Scheme zu sehen, der Rest glich einer wabernden, weichen Dampfschwade. Dort stand er nun, kaltes grau zwischen Wasser und Bruchsteinen. Er nickte mir zu, schloss die Augen, hob die Arme, atmete so tief ein, dass sich sein Körper zu verdoppeln schien. Schließlich atmete er sich selber aus. Tom verteilte sich auf dem Boden und der Luft. Nebelringel wurden von Liffey weggetragen, andere von Regenfäden zerteilt und schließlich war nur noch ein Hauch von dichter Luft im Schein einer flackernden Laterne zu sehen.


Blaues Licht und neongelbe Parka holten mich aus meiner gedanklichen und körperlichen Starre. „Mister? Hey Mister, hören sie mich?“ Wie verschlafen, drehte ich mich zu den beiden Polizisten um. „Sie dürfen da nicht stehen, kommen sie sofort wieder hoch, wenn sie nicht die nächste Leiche im Hafenbecken sein wollen.“ Ich schaute nach unten. Ich stand im verdammten Liffey und das Wasser ging mit bis zu den Knöcheln. Ich watete bis zur Mauer, wo die Polizisten gerade eine Strickleiter und ein Klettergeschirr herunterließen. Ich war komplett durchgefroren, der Morgen lag im dichten Nebel und roch nach Nudelsuppe und Ziegenpisse. Ich zurrte das Geschirr um mich herum fest und kletterte wackelig die Mauer hoch. „Was zum Teufel haben sie da unten gemacht?“, fragte der Polizist, der mir über die Mauer half. „Ich… ich habe nicht die geringste Ahnung,“ stotterte ich mit klappernden Zähnen.

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